Wohnzimmerlesung mit Kai Meyer

Leipziger Wohnzimmerlesung mit Kai Meyer

Die Leipziger Buchmesse ist seit vielen Jahren ein fester Termin in meinem Kalender. Einer, auf den ich mich jedes Mal besonders freue – denn es ist immer wieder etwas Besonderes, all die literaturbegeisterten und buchaffinen Menschen zu treffen. Nicht nur auf dem Messegelände, sondern in der ganzen Stadt kommen sie zusammen; in unzähligen Veranstaltungsorten, in Cafés, Kneipen, Restaurants, Clubs. Und im Wohnzimmer meines guten Freundes Hannes, der bei jedem Leipzig-Besuch mein Gastgeber ist. Seit 2018 veranstalten wir bei ihm unsere Wohnzimmerlesungen, für die er den größten Raum seiner Wohnung leerräumt, ihn mit Bierbänken ausstattet und den Kühlschrank mit Getränken befüllt. Eine Autorin oder ein Autor tritt auf, das Wohnzimmer ist voller Menschen, von denen wir nur die Hälfte kennen und es sind wunderbare Abende mit guten Gesprächen und spannenden Begegnungen. Dieses Jahr hatten wir Kai Meyer zu Gast und ich hatte das große Vergnügen, mit ihm über seine Romane »Die Bücher, der Junge und die Nacht« und »Die Bibliothek im Nebel« zu reden. Und über das Leipziger Graphische Viertel, das heute nur noch als Mythos existiert. Vierunddreißig Gäste füllten jeden Quadratzentimeter des Wohnzimmers – es war eine ganz besondere Stimmung. 

Leipziger Wohnzimmerlesung mit Kai Meyer

Der 1969 geborene Kai Meyer ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Phantastik-Autoren, der mittlerweile siebzig Bücher veröffentlicht hat. Zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere entstanden aber auch Romane zu historischen Stoffen – und mit »Die Bücher, der Junge und die Nacht« und »Die Bibliothek im Nebel« kehrte er in diesen Bereich seines Schaffens zurück. Beide Bücher spielen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sind lose miteinander verbunden und haben einen ganz besonderen Handlungsort: Das legendäre Graphische Viertel in Leipzig, das im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs unterging. Steht es beim ersten Band komplett im Mittelpunkt, so taucht es im zweiten Buch nur am Rande auf, ist aber trotzdem sehr präsent. Eine kleine, fein dosierte und schaurig-schöne Prise Phantastik verleiht dabei den historischen Settings eine ganz besondere Note. Im dritten Band – an dem der Autor gerade schreibt – wird es wieder der zentrale Ort der Handlung sein, auch hier ist eine lose Verbindung zu den anderen beiden Teilen geplant. 

Mit dem Untergang des Graphischen Viertels beginnt »Die Bücher, der Junge und die Nacht« und mit dieser wuchtigen Lesestelle startete unser Wohnzimmerabend. Anschließend sprachen wir über jenes Quartier, das sich östlich der Leipziger Innenstadt befand und das Herz der Buchbranche in Deutschland war. Es gab dort etwa 2.200 Betriebe, die mit der Herstellung und dem Verkauf von Büchern, Zeitschriften, Noten und anderen Druckerzeugnissen zu tun hatten – Verlage, Buchhandlungen, Druckereien, Buchbindereien, Satzbetriebe, Schriftgießereien, Lithographische Anstalten, Antiquariate, Papierfabriken, Gravieranstalten, Hersteller von Druckmaschinen oder Logistikbetriebe. Manche Straßen beherbergten fast in jedem Haus eine Firma der Medienindustrie, ungefähr zehn Prozent der Leipziger Bevölkerung arbeitete in diesem Stadtteil; nie zuvor in der Geschichte und niemals wieder danach hat es solch ein Ballungszentrum des graphischen Gewerbes gegeben. In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943 verschwand das Graphische Viertel durch einen Bombenangriff der Royal Air Force in einem Inferno aus Feuer und Explosionen, die großen Bücherlager verbrannten, verkohlte Papierfetzen wurden bis nach Halle geweht, in den Druckereien schmolzen durch die Hitze die Drucktypen aus Blei. Schätzungsweise 50 Millionen Bücher wurden ein Raub der Flammen.

Leipziger Wohnzimmerlesung mit Kai Meyer

Die Beschäftigung mit der Geschichte dieses Viertels ist seit meiner Zeit in Leipzig ein Herzensthema von mir und daher war es für mich besonders spannend, mit Kai Meyer darüber zu sprechen. Er erzählte von seiner Idee, einen Roman genau dort anzusiedeln, von seiner Recherche und von seiner Idee, das Graphische Viertel als einen düsteren, rauchverhangenen und nebligen Ort darzustellen – nicht zu Unrecht, denn die vielen Schornsteine der Tag und Nacht arbeitenden Druckereien dürften für entsprechenden Smog gesorgt haben. Wir sprachen über die verschiedenen zeitlichen Handlungsebenen, über den Buchhändler und Buchbinder Jakob Steinfeld, seinen Sohn Robert Steinfeld, der seinen Vater nie kennenlernte und sich 1971 anschickt, dessen Schicksal (und sein eigenes) aufzuklären, den Verleger Pallandt, über einen geheimnisvollen Fremden, der mitten in den Kriegswirren seltenen Büchern hinterherjagt und über viele andere Personen, die den Roman bevölkern; über echte und erfundene Orte wie etwa die Buchhandlung »Montechristo«, die mit ihren Schaufenstern voll warmen Lichts wie eine leuchtende Oase in den düsteren Straßen des Viertels liegt – eine wunderschöne Reminiszenz an »Sempere & Söhne« aus Carlos Ruiz Zafóns Barcelona-Romanen.

Und wir redeten über den Buchhandelsgehilfen Grigori Gomorow, der eigentlich als Nebenfigur der Handlung angelegt war, aber hinter dessen fabulierenden Erzählungen sich mehr verbirgt, als wir zu Beginn ahnen können. Für Kai Meyer ist Grigori beim Schreiben zur Lieblingsfigur geworden und er ist das Bindeglied zum zweiten Roman. Denn in »Die Bibliothek im Nebel« treffen wir ihn wieder und lernen seine Lebensgeschichte kennen. Oder zumindest einen weiteren Teil davon, gut versteckt zwischen den vielen Anekdoten, die er zu erzählen weiß. 

Leipziger Wohnzimmerlesung mit Kai Meyer

Auch in »Die Bibliothek im Nebel« gibt es verschiedene Zeitebenen. Die Handlung schickt uns auf eine rasante Reise durch eine Epoche, in der das alte Europa auseinanderfällt. Wir erleben das St. Peterburg des Jahres 1917 in den letzten Tagen der Zarenherrschaft, als sich der Umbruch gewaltsam Bahn brach und alles in Chaos und Gewalt versank. Machen Station in einer Verlegervilla in Leipzig im gleichen Jahr. Blicken zurück in das Jahr 1914 und sind zu Gast im Nobelhotel Château Trois Grâces an der  Côte d’Azur, in dem wir uns 1928 und 1957 wieder einfinden werden, denn hier auf dem Dachboden liegt ein Schlüssel zur Vergangenheit. Zu einer mörderischen Vergangenheit, deren Auswirkungen über all die Jahre spürbar sind. Die Zeitebenen verknüpfen sich, es geht um eine verschwundene Person, um dubiose Todesfälle, um Rache, um Liebe und Loyalität, um den Lauf der Geschichte, die keine Rücksicht auf die Schicksale der Menschen nimmt. Um eine jahrzehntelange Suche. Und – natürlich – um Bücher. 

Im Mittelpunkt stehen die Schicksale zweier Verlegerfamilien, der Kalinins in St. Petersburg und der Eisenhuths in Leipzig, die geschäftlich miteinander verbunden sind, in jenem Hotel gemeinsame Ferienzeiten verbringen und die beide in einem sich auflösenden Europa untergehen werden. Zurück bleiben Gepäckstücke auf dem Hoteldachboden, in denen 1928 Liette, die Nichte des Hoteldirektors, beim Spielen ein Buch findet, dessen Geheimnis ihr Leben prägen wird.

Im Wohnzimmer erzählte Kai Meyer, was es mit den eingelagerten Gepäckstücken auf sich hatte. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg reisten viele russische Familien nach Südfrankreich, um dort ihre Ferien zu verbringen. Da es sehr aufwändig war, die zahlreichen Schrankkoffer mit all der Kleidung, dem Schmuck und den anderen Utensilien für ein standesgemäßes Auftreten per Zug durch ganz Europa zu schaffen, boten viele Hotels an, die Dinge bis zur nächsten Saison auf den Dachböden aufzubewahren. Dann kam der Krieg. Dann die russische Revolution, mit der diese Gesellschaftsschicht blutig hinweggefegt wurde. Nur ihre Truhen, Koffer und Taschen auf den Dachböden blieben übrig. Und ein Bericht über jene Gepäckstücke war für Kai Meyer die entscheidende Inspiration für seinen Roman »Die Bibliothek im Nebel« – auch das verriet er uns an diesem Abend.

Nach knapp eineinhalb Stunden ging die Wohnzimmerlesung zu Ende. Zum Schluss sprachen wir über Kai Meyers Arbeitsweise, denn ich wollte von ihm wissen, wie er als Autor an Bücher mit solch komplexen Handlungen, zahlreichen Figuren und verschiedenen Zeitebenen herangeht. Als Faustregel gilt für ihn: 50 Prozent Plotten und 50 Prozent Schreiben. Er plant seine Bücher akribisch, überlegt sich auch die feinsten Verästelungen der Handlung im Voraus – und muss dann »nur« noch schreiben. Doch auch bei einer solch genauen Vorbereitung geschieht es, dass ein Protagonist wie Grigori ihm ganz besonders an Herz wächst. Mir als Leser übrigens auch. Und ich hoffe, dass wir ihm erneut begegnen werden. 

Ein kleines Detail noch zum Schluss: Die Wohnung, in der unsere Lesungen stattfinden, befindet sich unter dem Dach einer alten Leipziger Verlegervilla; vermutlich war es einst der Dienstbotentrakt gewesen. Das ist natürlich sowieso ein schöner Rahmen, aber inhaltlich hat es dieses Mal besonders gut gepasst. Wir standen dort noch lange zusammen, tranken, redeten, lachten. Es war ein wunderschöner Abend! 

Vielen Dank, lieber Kai, dass du dabei warst – unser Gespräch hat großen Spaß gemacht. Vielen Dank, lieber Hannes, für deine großzügige Gastfreundschaft – ohne dich wäre Leipzig nicht Leipzig. Und vielen Dank an alle Teilnehmenden – es war uns ein Fest. Die nächste Wohnzimmerlesung findet zur Leipziger Buchmesse 2025 statt. Und das ist dann bereits ein halbrundes Jubiläum. Wir freuen uns schon. 

»Manche Menschen sind für die Bücher gemacht und nur die Ahnungslosen glauben, es sei umgekehrt.« 
Aus: Die Bibliothek im Nebel

Bücherinformationen
Kai Meyer, Die Bücher, der Junge und die Nacht
Knaur Verlag
ISBN 978-3-426-22784-8

Kai Meyer, Die Bibliothek im Nebel
Knaur Verlag
ISBN 978-3-426-22808-1

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Die Lagune weint um ihre Stadt

Isabelle Autissier: Acqua Alta

Zwei Mal in meinem Leben war ich bisher in Venedig: Im Februar 1997 für einen Tag und im Oktober 2003 fast eine ganze Woche lang. Wie so viele andere Menschen hat auch mich diese Stadt bezaubert – mit ihrer Einzigartigkeit, mit ihrer geschichtsträchtigen Atmosphäre, mit ihrem maroden Charme, mit ihren Nebelschwaden, von denen sie regelmäßig eingehüllt wird und mit ihrer ganz besonderen nächtlichen Stimmung, die schon ans Mystische grenzt. Und trotz aller Touristenmassen hinterlässt sie Bilder im Kopf, die mich seitdem begleiten. Dabei ist die Schönheit Venedigs fragil: Das die Lagunenstadt umgebende, äußerst empfindliche Ökosystem ist durch Industrie und menschliche Gier aus dem Gleichgewicht geraten, während der alles niedertrampelnde Massentourismus Venedig mehr und mehr zu einem Freilichtmuseum verkommen lässt – die Photos der alles überragenden Kreuzfahrtschiffe sind schrecklich anzusehen. Im Roman »Acqua Alta« von Isabelle Autissier geht es um all dies. Die Autorin erzählt die Geschichte einer Familie, die aufs Engste mit Venedig verbunden ist. Mit der stolzen Vergangenheit der Stadt – und mit ihrem Untergang. „Die Lagune weint um ihre Stadt“ weiterlesen

Der Brief mit der Axt

Franz Kafkas Brief mit der Axt

Franz Kafkas Satz mit der Axt und dem Buch und dem gefrorenen Meer kennt wahrscheinlich jeder literaturinteressierte Mensch; er wurde so oft zitiert, dass er fast zu einem Gemeinplatz geworden ist. Leider, muss man sagen, denn es gibt kaum eine Formulierung, mit der sich die Macht der Literatur, des geschriebenen Wortes besser ausdrücken lässt. Besonders, wenn man sich nicht nur diesen einen Satz anschaut, sondern den gesamten Brief, aus dem er stammt. Der zwanzigjährige Franz Kafka berichtet darin von einem überwältigenden Leseerlebnis und der Abschnitt, in dem sich der Axt-Satz befindet, ist nur ein kleiner Teil davon. Es ist sehr leicht, diesen Brief online zu finden, eine schnelle Recherche genügt. Geschrieben wurde er von Kafka in Prag im Januar 1904 an seinen gleichaltrigen Schul- und Studienfreund Oskar Pollak, der zu dieser Zeit ein Semester pausierte. Hier ist er in Gänze. „Der Brief mit der Axt“ weiterlesen

Gestatten?* Larissa Reissner

Steffen Kopetzky: Damenopfer - das Leben von Larissa Reissner

Was für ein Leben! Vermutlich ist das der Gedanke, der mir beim Lesen des Romans »Damenopfer« am häufigsten durch den Kopf ging. Denn auch wenn es sich um ein fiktionales Werk und nicht um eine Biographie handelt, so erzählt Steffen Kopetzky dennoch eine wahre Geschichte. Die Geschichte eines Lebens. Eines kurzen Lebens zwar, das aber so spektakulär verlief, dass alleine schon die Eckdaten klingen wie ein Roman. Denn die 1926 verstorbene Larissa Reissner hatte viele Rollen inne in den knapp dreißig Jahren, die ihr gegeben waren. Die Tochter eines russischen Juristen mit deutschen Wurzeln glaubte fest daran, die Welt zum Besseren verändern zu können. Als Mitglied der Bolschewistischen Partei war sie in der russischen Oktober-Revolution aktiv, kämpfte während des russischen Bürgerkriegs in der Roten Armee und war Kommissarin des Generalstabs der Roten Flotte. Sie trug entscheidend zur Rückeroberung der Stadt Kasan bei; eine der Schlüsseloperationen für den endgültigen Sieg der Bolschewiki über die Weißgardisten. Aber Larissa Reissner focht nicht nur mit der Waffe: Sie war Schriftstellerin, verfasste Reportagen, Zeitungsartikel und Reiseberichte. Ständig unterwegs entwarf sie Pläne, um die Revolution in die Welt hinauszutragen, kannte zahllose Intellektuelle; Boris Pasternak und Leo Trotzki sprachen an ihrem Grab. Und das sind nur ein paar der biographischen Details dieses außergewöhnlichen Lebenslaufes, der sich kaum in Worte kleiden lässt. Doch Steffen Kopetzky hat es geschafft: Mit seinem Roman holt er den Menschen hinter diesen Details aus dem Schatten der Geschichte und bringt uns Larissa Reissner so nahe, wie es fast ein Jahrhundert nach ihrem Tod nur möglich ist. „Gestatten?* Larissa Reissner“ weiterlesen

Kaffeehaussitzers Kafka-Jahr

Das Kafka-Jahr

Als ich zum ersten Mal etwas von Franz Kafka las, stand ich im Licht einer Straßenlaterne. Es ist lange her und muss im Herbst des Jahres 1990 gewesen sein, aber ich habe diesen Moment, diesen Abend nie vergessen. Vielleicht, weil dabei einiges zusammenkam. Es war kurz nach dem Ende meines Zivildienstes, und beim Start ins Leben war ich gleich in einer Sackgasse gestrandet. Denn ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte, keine Idee, was die Zukunft bringen könnte, keine Perspektive. Ich wohnte zur Untermiete bei einer Kollegin; nicht ganz legal, denn laut Mietvertrag war dies nicht erlaubt – was dazu führte, dass ich immer schnell durch das Treppenhaus huschte und möglichst wenig zu Hause war. Falls man es unter diesen Umständen überhaupt ein Zuhause nennen konnte. Der Zivildienst war gegen einen Job als Altenpflegehelfer eingetauscht worden, das Geld genügte, um jeden Abend auszugehen oder die freien Nachmittage in Cafés zu verbringen. Die nagende Unzufriedenheit wurde dabei durch ständiges Unterwegssein und viel zu wenig Schlaf mehr oder weniger erfolgreich übertüncht. Doch nach einer langjährigen Pause hatte ich einige Monate zuvor das Lesen wieder entdeckt – und in dieser Zeit wurde es mir zur Gewohnheit, immer ein Buch bei mir zu tragen. Eine Gewohnheit, die ich nie wieder abgelegt habe. „Kaffeehaussitzers Kafka-Jahr“ weiterlesen

Mein Lesejahr 2023: Die besten Bücher

Mein Lesejahr 2023: Die besten Buecher

»Manche Menschen sind für die Bücher gemacht, und nur die Ahnungslosen glauben, es sei umgekehrt.« Dieser Satz stammt aus dem Roman »Die Bibliothek im Nebel« von Kai Meyer und er trifft es genau. Das Lesen und die Literatur sind für mich elementare Bestandteile des Lebens; sie geben mir Halt, Orientierung und neue Kraft in einer Welt, die vor unseren Augen zu zerbröseln scheint. Und wie jedes Jahr um diese Zeit stelle ich hier die fünfzehn Werke vor, die mir in den vergangenen zwölf Monaten besonders gut gefallen, die mich begeistert haben und die auch lange darüber hinaus im Gedächtnis bleiben werden. Bei diesem Rückblick sind nicht alle, aber die meisten Bücher tatsächlich im letzten Jahr erschienen, was bei meinen Lesegewohnheiten keinesfalls selbstverständlich ist. Es ist mir nie besonders wichtig, bei der Lektüreauswahl stets auf aktuellem Stand der Verlagsprogramme zu sein – eher im Gegenteil. Oft lagern Bücher jahrelang im Regal, bevor ich sie lese, bevor genau der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Und bei diesen war dieser richtige Zeitpunkt da. Aber seht selbst, hier sind sie, die besten Bücher meines Lesejahres 2023. „Mein Lesejahr 2023: Die besten Bücher“ weiterlesen

Das Haben-Müssen-Gen

Alte Buecher

Einmal, es ist schon etwas her, war ich wochenlang damit beschäftigt, meine Bücherregale zu durchforsten, um auszusortieren. Nicht zum ersten und gewiss nicht zum letzten Mal, aber ab und zu ist es einfach nötig. Denn der zur Verfügung stehende Platz ist leider begrenzt, auch wenn er große Teile der Wohnfläche einnimmt. Daher gibt es drei Kriterien, nach denen ich die Bücher auswähle, mit denen ich mich umgeben möchte: Entweder hat mich ein Buch so begeistert oder beeindruckt, dass ich mir vorstellen könnte, es ein weiteres Mal zu lesen – auch wenn das möglicherweise nie stattfinden wird. Oder ich verbinde ein Buch mit einem bestimmten Ereignis in meinem Leben, an das es mich erinnert; viele davon habe ich hier im Blog im Laufe der Jahre vorgestellt. Und natürlich gibt es die zahlreichen ungelesenen Bücher, die auf die Lektüre warten; dies ist mein Lesevorrat. Und im Prinzip kann man davon gar nicht genug haben, ich liebe es, vor den Regalen mit der Frage zu stehen: Was lese ich als nächstes? Aber es gibt das ein oder andere Buch, bei dem ich überlege, ob es mich nach zehn, fünfzehn Jahren im Regal tatsächlich noch so interessiert, dass ich es irgendwann lesen werde. Gleichzeitig ziehen Woche für Woche neue Bücher in mein Zuhause ein, manche Stapel – in den Regalen ist schon längst kein Platz mehr – schwanken bereits bedenklich. Daher müssen immer wieder Bücher weichen; was bleibt, ist irgendwann die Essenz eines Leserlebens. „Das Haben-Müssen-Gen“ weiterlesen

Als Trauermusik im Radio lief

Andreas Pflueger: Wie Sterben geht

Im Februar 2017 schrieb ich hier im Blog: »Um gleich einmal mit der Tür in Haus zu fallen: »Endgültig« von Andreas Pflüger ist einer der besten deutschen Kriminalromane, den ich in den letzten Jahren gelesen habe. Punkt.« Diesen Einstieg würde ich am liebsten noch einmal verwenden, wieder für einen Roman von Andreas Pflüger; diesmal ist es – man ahnt es schon – »Wie Sterben geht«. Ein Agententhriller vom Feinsten, der gerade eine begeisterte Besprechung nach der anderen erhält. Der Vergleich mit John Le Carré ist regelmäßig zu lesen und auch ich dachte bei der Lektüre unweigerlich an den Großmeister des Spionageromans. Und ja, »Wie Sterben geht« hält diesem Vergleich locker stand, auch wenn Le Carrés Romane – zumindest diejenigen, die ich kenne – fast noch eine Spur düsterer sind. Und düster ist es bei Andreas Pflüger, denn die Handlung führt uns in die Zeit des Kalten Krieges, als sich die Nato und die Warschauer-Pakt-Staaten waffenstarrend gegenüberstanden, sich in einem bedrohlichen Patt belauerten, während hinter den Kulissen erbittert um das gekämpft wurde, wofür alle Geheimdienste dieser Welt bereit sind, über Leichen zu gehen. Um Informationen. „Als Trauermusik im Radio lief“ weiterlesen

Brief an den Vater

Necati Oeziri: Vatermal

Für die Überschrift dieses Blogbeitrags habe ich mir den Titel von Franz Kafkas »Brief an den Vater« geborgt; eines der bekanntesten Zeugnisse der Literaturgeschichte, in dem ein Autor mit der alles dominierenden Präsenz eines Familienpatriarchen abrechnet. Und auch wenn es vollkommen unterschiedliche Texte sind und nichts miteinander zu tun haben, finde ich den Titel auch hier passend. Denn Arda Kaya, der Protagonist des Romans »Vatermal« von Necati Öziri, schreibt ebenfalls an seinen Vater und prangert dessen Verhalten als verhängnisvoll für das Leben seiner Familie an. Zwar gibt es einen wichtigen Unterschied, denn Ardas Vater dominiert nicht mit seiner Präsenz, sondern hat mit seinem unvermittelten Weggang eine riesige Lücke gerissen. Doch gerade diese Leerstelle prägt das Leben von ihm, seiner Schwester Aylin und ihrer Mutter Ümran auf eine alles erdrückende Weise. 

Der Ich-Erzähler Arda liegt im Krankenhaus. Er ist jung, noch zu Beginn seines Studiums, aber es ist sehr ungewiss, ob er die Klinik lebend verlassen wird. Die Diagnose lautet Autoimmunhepatitis, sein eigenes Immunsystem greift die Organe an und niemand weiß, ob und wie dies zu stoppen ist. Ein junger Mensch, dessen Leben gerade gestartet war, steht bereits vor dem Ende. Und er nutzt dies, um alles aufzuschreiben, was er Metin, seinem Vater, gerne gesagt hätte. Seinem Vater, den er nie kennengelernt, der ihn durch seinen Weggang im Stich gelassen hat. Und gleich auf den ersten Seiten fällt ein starker, ein entscheidender Satz: »Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war.«  „Brief an den Vater“ weiterlesen

Welch vortrefflich Werk

Thomas Willmann: Der einserne Marquis

Das Warten hat sich gelohnt. Der 2010 erschienene Roman »Das finstere Tal« von Thomas Willmann hatte mich seinerzeit vollkommen begeistert und seitdem war ich gespannt auf das nächste Buch des Autors. »Er schreibt daran« – so hieß es seitens des Liebeskind-Verlags Jahr für Jahr, wenn ich auf den Buchmessen danach fragte. Das war schon fast eine Art liebgewonnenes Ritual, bis es in diesem September endlich soweit war und tatsächlich ein neuer Roman von Thomas Willmann in den Buchhandlungen auftauchte. »Der eiserne Marquis« lautet der Titel, über zwölf Jahre lang hat er daran geschrieben, über zwölf Jahre lang haben seine Leser darauf gewartet. Und auch wenn ich mich wiederhole: jeder einzelne Tag davon hat sich gelohnt. 

»Der eiserne Marquis« führt uns in die Mitte des 18. Jahrhunderts, hinein in eine Zeit, in der sich große Umbrüche andeuteten. Absolutistische Monarchen herrschten mit eiserner Hand über ihre Länder, während die Epoche der Aufklärung den klerikalen Mief beiseite fegte und den Weg frei machte für neues Denken. Noch beinahe mittelalterliche Strukturen prägten das Leben der Landbevölkerung, während sich gleichzeitig eine Blütezeit der Wissenschaft anbahnte, sich der Beginn der Industrialisierung bemerkbar machte, der Fortschrittsglaube ein wesentliches Merkmal des aufklärerischen Denkens war. Kriege begannen globale Ausmaße anzunehmen – der Siebenjährige Krieg zwischen 1756 und 1763 wurde nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in Nordamerika und Indien ausgetragen. Und über alldem lag der erste, noch vorsichtige, aber spürbare Dufthauch einer großen Revolution. Stillstand und Bewegung in Richtung einer ungewissen Zukunft – das sind die beiden Pole jener Epoche, die sie moderner erscheinen lassen, als es uns gemeinhin bewusst ist. „Welch vortrefflich Werk“ weiterlesen

Nie wieder ist jetzt

Nie wieder ist jetzt.

In den letzten Wochen war es sehr ruhig hier im Blog Kaffeehaussitzer. Ein einziger Beitrag ist im Oktober erschienen; dies auch nur, weil ich ihn schon weitgehend vorbereitet hatte. Dabei ist es nicht so, dass mir die Ideen ausgegangen sind, eher im Gegenteil – es warten noch dutzende gelesene Bücher darauf, vorgestellt zu werden. Nein, es sind die furchtbaren Ereignisse des 7. Oktober 2023 und deren Folgen, die meine Gedanken so beschäftigt haben, dass ich den Blogalltag nicht einfach fortsetzen konnte; so, als sei alles wie immer. Es sind Gedanken voller Entsetzen, voller Wut und voller Fassungslosigkeit, und seit jenem verheerenden Tag suche ich die Worte, um ihnen hier Ausdruck zu verleihen. „Nie wieder ist jetzt“ weiterlesen

George Grosz trifft Agatha Christie

Cay Rademacher: Die Passage nach Maskat

Wenn ich einen Blogbeitrag beginne, um ein Buch vorzustellen, habe ich in der Regel bereits eine grobe Gliederung im Kopf. Oftmals wird der Text dann doch ganz anders als gedacht, doch zumindest der Einstieg fällt mir nie schwer. Dieses Mal ist es anders. Einen Abend lang habe ich versucht, die ersten Sätze zu schreiben, aber die Worte wollten nicht so wie ich. Jetzt also der nächste Versuch. Es geht um das Buch »Die Passage nach Maskat« von Cay Rademacher, auf dessen Umschlag das Wort »Kriminalroman« steht. Und ja, auf den ersten Blick ist es eine beinahe klassische Whodunit-Geschichte. Doch beim zweiten Blick gibt es darin noch eine ganze Menge mehr zu entdecken – und dies herauszuarbeiten, ohne zu viel von der Handlung zu verraten, ist nicht ganz einfach. Beginnen wir erst einmal mit der zeitlichen Einordnung.  „George Grosz trifft Agatha Christie“ weiterlesen

Literaturreise in die Berge

Franz-Tumler-Literaturpreis 2023

Das Unterwegssein ist mir ebenso wichtig wie das Lesen und die Beschäftigung mit Literatur – es sind essentielle Bestandteile meines Lebens. Und manchmal trifft beides zusammen: Am 21. und 22. September 2023 war ich eingeladen, als Gast bei der Vergabe des Franz-Tumler-Literaturpreises dabei zu sein. Die Reise führte nach Laas in Südtirol; eine Bahnfahrt von Köln über München, Bozen und Meran. Dann weiter. Die Züge wurden immer kleiner, schließlich ging es hoch hinauf in das Vinschgautal; Laas liegt etwa auf halber Strecke zwischen Meran und dem Reschenpass. Ich hatte im vorletzten Blogbeitrag die Tour unter dem Titel »Mit fünf Büchern in die Marmorstadt« angekündigt, aber mit etwa 4.100 Einwohnern hat der Ort eher dörflichen Charakter – doch der Marmor ist tatsächlich das prägende Element. Direkt am Bahnhof ein riesiges Depot aufgereihter Marmorklötze zur Weiterverarbeitung, die Fußwege im Dorfkern sind mit Marmor gepflastert, der Dorfplatz sowieso, es gibt einen Brunnen aus Marmor, sogar die Litfaßsäule im Zentrum trägt eine marmorne Überdachung. In 1.500 Meter Höhe wird er abgebaut; unter Tage, es sind riesige Höhlen mit weißen Wänden. Seit hunderten von Jahren gibt es die Marmorminen, der Abbau verleiht dem Dorf in Verbindung mit der allgegenwärtigen Vinschgauer Obstwirtschaft ein ganz eigenes Flair. Es ist ein besonderer Ort für eine ganz besondere Veranstaltung. „Literaturreise in die Berge“ weiterlesen

Lesend durch die Cafés der Stadt

Olivia Laing: Die einsame Stadt

Manchmal, nicht sehr oft, gönne ich mir etwas Auszeit und ziehe einen Tag lang von Café zu Café. Mit einem Buch als Begleiter. Einen Tag lang lesen, schauen, sitzen, schlendern, lesen, schauen, lesen, lesen – es sind intensive Lektüreerlebnisse. Bei der letzten Kaffeehaustour, wie ich diese Tage hier im Blog nenne, war ich in Berlin unterwegs. Und mit dabei hatte ich das Buch »Die einsame Stadt« von Olivia Laing. »Vom Abenteuer des Alleinseins« lautet der Untertitel; perfekt passend für einen Leser alleine im Café, dachte ich. Und wurde nicht enttäuscht. Olivia Laing schickte mich auf eine inspirierende Reise durch die Kunstwelt des 20. Jahrhunderts. Und durch die Straßen New Yorks, gleichzeitig schillernde Kulisse und Hauptprotagonistin des Buches. „Lesend durch die Cafés der Stadt“ weiterlesen

Mit fünf Büchern in die Marmorstadt

Franz-Tumler-Literaturpreis 2023: Die Nominierten

Eine Reise steht bevor, auf die ich mich schon sehr freue und die Überschrift deutet an, um was es gehen wird: Mit fünf Büchern in die Marmorstadt. Die Marmorstadt ist Laas in Südtirol. Der Marmor, das »weiße Gold«, das dort seit der Antike abgebaut wird, findet weltweit Verwendung; Beispiele sind das Queen-Victoria-Denkmal in London oder die U-Bahn-Station World Trade Center in New York

Die fünf Bücher, die mich auf der Reise begleiten, sind: »Drama« von Arad Dabiri, »oft manchmal nie« von Cornelia Hülmbauer, »Sommer in Odessa« von Irina Kilimnik, »Alpha Bravo Charlie« von Tine Melzer und »Was ihr nicht seht oder die absolute Nutzlosigkeit des Mondes« von Magdalena Saiger. Es sind fünf Debütromane und sie alle sind nominiert für den Franz-Tumler-Literaturpreis, der alle zwei Jahre in Laas vergeben wird. So auch diesen September und ich habe das große Vergnügen, als Gast dabei zu sein. In diesem Beitrag erzähle ich vorab über die fünf Bücher, die Jury und den Preis. Nach der Verleihung wird es einen Bericht darüber geben – mit Photos natürlich. „Mit fünf Büchern in die Marmorstadt“ weiterlesen